Industriekultur

Magazin für Denkmalpflege, Landschaft, Sozial-, Umwelt- und Technikgeschichte

1.06 Textilindustrie


Inhaltsverzeichnis

Editorial / Vorab bemerkt

Liebe Leserinnen und Leser,

das hat uns dann doch verblüfft: die Fülle der Artikel, die uns zum Themen-Schwerpunkt »Textilindustrie« angeboten wurden. Wir hätten zwei Hefte füllen können. Und so soll es ein zweites Heft geben: Die erste Ausgabe des Jahres 2007 wird wieder dem textilen Wirken und Weben gewidmet sein – dieses Mal allerdings mit dem Schwerpunkt auf den Produkten: Kleidung und andere Textilien! Aber bereits im nächsten Heft wird ein Artikel über einen der bedeutendsten Architekten der Textilindustrie, Phillip Jacob Manz, erscheinen.

Wenn man sich die Geschichte der Branche vor Augen führt, ist die Fülle des Materials vielleicht doch nicht so verblüffend: War doch die Textilindustrie die größte Branche der Frühindustrialisierung überhaupt. Hinzu kommt, dass die Herstellung von Textilien fast überall notwendig und üblich war. Ihr fast lautloses Verschwinden von der Bühne der hiesigen Wirtschaft dagegen entspricht nicht ihrer Bedeutung. Warum war dieser Abgang so unspektakulär? Weil die sukzessive Schließung vieler kleiner und mittlerer Betriebe weniger Aufsehen erregt, als die Schließung eines Bergwerkes oder eines Hochofens? Weil hier mehr Frauen als in anderen Branchen arbeiteten? Weil die Spinnerin, der Weber, die Näherin es im Gegensatz zum Bergmann oder Stahlkocher nie zur dramatisch überhöhten und medial tausendfach abgelichteten Ikone der Industriearbeit geschafft haben? Weil leere Textilfabriken nicht so verloren wirken wie stillgelegte Hochofen oder Förderturme, die ganze Stadtlandschaften traurig-drohend überragen?

Dennoch ist uns ein reiches bauliches Erbe geblieben. Im Gegensatz zu Hochöfen oder Bergwerken können Textilfabriken ohne großen Aufwand neu genutzt werden. Büros, Lager, Läden und Lofts, aber auch manche öffentliche Verwaltung und Kultureinrichtung – sie geben den alten Gemäuern wieder einen Sinn. Wobei dies regional recht unterschiedlich gedeiht: Gibt es in den Metropolen kaum etwas schickeres als Arbeiten und Wohnen im Loft, gelten in ländlichen Bereichen die alten Fabriken immer noch als Schandflecken. Besonders bedenklich ist eine Ost-West-Diskrepanz: Die fehlende ökonomische Potenz für die Umnutzung alter Industriebauten wird im Osten zunehmend zum Problem – zum Beispiel in Forst (Seite 22). Besonders gefährdet sind jedoch die Spinnmühlen in Sachsen – Pionierbauten der deutschen Industrialisierung. Sie verfallen schlichtweg – und niemand schert sich darum! Andreas Oehlke schildert auf Seite 6 f. die Bedeutung dieser bedrohten Bauten.

Zwei Anmerkungen in eigener Sache: Dirk Zache, der neue Direktor des Westfälischen Industriemuseums und Mit-Herausgeber der »industrie-kultur«, hatte sich gerade eingearbeitet (Seite 32 f.) – da stand im Rheinischen Industriemuseum ein Wechsel an: Die Museumsdirektorin Milena Karabaic ist seit 1. Februar Dezernentin für Kultur und Umwelt im Landschaftsverband Rheinland. Wir gratulieren und wünschen ihr auch weiterhin alles Gute! Seit 1987 hatte Milena Karabaic beim RIM gearbeitet und 1995 als Herausgeberin auch die »industrie-kultur« mit aus der Taufe gehoben.

Schließlich intensivieren wir unseren Auftritt im Internet auf unserer Webseite www.industrie-kultur.de. Dort wird jetzt eine Liste der in Deutschland noch erhaltenen Gasbehälter, Gaswerke und Kokereien zusammengestellt, die korrigiert, ergänzt und ausgebaut werden soll. Die Zahl der Bauwerke nimmt hier dramatisch ab. So bekommen wir zu dem Thema eine für alle nutzbare Grundlage.

Detlef Stender und die Redaktion

Schwerpunkt
Giganten und Nischen / Zur Textilindustrie in Deutschland: Geschichte, Denkmale, Museen, S. 2-5
von: Detlef Stender
Einzigartige Zeugnisse der frühen Textilindustrie: Spinnmühlen in Sachsen, S. 6-7
von: Andreas Oehlke
200 Jahre Maschinenleben, zuletzt in einer DDR-Nische: Die Wollspinnerei Willführ, S. 8
von: Kornelius Götz, Susanne Meyer
Textilindustrieland Schweiz: Die erste … die letzte Spinnerei / Vom Anfang und Ende des einst führenden Wirtschaftszweiges, S. 9-11
Die Tuchfabrik Brede – eine europäische Fabriksiedlung in Dänemark, S. 12
von: Jeppe Tönsberg
Salhus in Norwegen – eine Fabrikstadt am Fjord, S. 13
von: Erik Smaland
Textile Schätze – verborgen zwischen Buchdeckeln, S. 14-15
von: Annegret Wenz-Haubfleisch, Claudia Selheim, Natascha Zödi
Sidney Stott und die Einführung des modernen englischen Spinnereihochbaus, S. 16-17
von: Andreas Oehlke
Enka in Ede – eine großzügige Kunstseidefabrik auf der grünen Wiese, S. 18-19
von: Sven Siebenmorgen
Tuche aus dem Tal der Wupper / Die Textilstadt Wülfing in Radevormwald-Dahlerau, S. 20-21
von: Johannes Großewinkelmann, Peter Dominick
Forst in der Lausitz-einst das Manchester Deutschlands, S. 22
von: Thomas Janssen
Energieträger von einst: Braunkohle der Alpenrepublik / Die oberösterreichische Landesausstellung „Kohle und Dampf“ setzt dem Bergbau des Landes ein Denkmal, S. 23-26
von: Edgar Bergstein
Erin-Netzwerk
Erfolg in den Fingerspitzen / Die Baumwoll-Mühlen im Tal des Derwent, S. 27
von: Frieder Bluhm
Arsen und Spitzenklasse / Morwellham Quay bei Tavistok, Südwest-England, S. 27
von: Frieder Bluhm
Puritanisches Paradies / Saltaire Village bei Bradford, Nordengland, S. 28
von: Frieder Bluhm
Faszination einer Faser / Das Jutewerk Verdant Works in Dundee/Schottland, S. 29
von: Frieder Bluhm
In die Wolle geraten / Das Niederländische Textilmuseum Tilburg, Nordbrabant, S. 30
von: Frieder Bluhm
Rubriken
Wasser für den Kaiser-Ausstellung in Berlin, S. 31
von: Klaus Röttcher
Über das Leben auf Inseln / Gespräch mit Dirk Zache, dem neuen WIM-Direktor, S. 32-33
von: Eckhard Schinkel
Bademoden und Gesellschaftskleider / Die Textilsammlung des Rheinischen Industriemuseums, S. 34-35
von: Claudia Gottfried
Erlebnis Industriekultur / Ein städteübergreifendes Projekt im Rahmen der Regionale 2006, S. 36-37
von: Anette Kolkau, Jochem Putsch
Neues Leben dank Industriekultur / Eine Reise zu Fabriken und Bergwerken in Nordfrankreich, S. 38-39
von: Jörg Raach
Ein Meister der Barbara-Fenster / Karl Ferdinand Selgrad aus Neunkirchen hat mehr als 50 Arbeiten mit Glasfenstern entworfen, S. 40-41
von: Thomas Janssen
„Aufbau West“ dank ostdeutscher Spezialisten-die herausragende Bedeutung der Textilindustrie, S. 42-43
von: Arnold Lassotta
Großflächige Industriebrachen, S. 44-45?
von: Axel Föhl
Industriekultur in den Regionen
Zentrum zur Geschichte des Stahls, S. 46
von: Sven Bardua
Mehr als 35 Großgeräte gesammelt, S. 46
von: Sven Bardua
Abbruch einer AEG-Fabrik geplant, S. 46
von: Anke Blümm
Eberswalde: Abbruch im Kraftwerk Heegermühle, S. 47
von: Sven Bardua
Lokschuppen-Freunde wieder in Wittenberge, S. 47
von: Sven Bardua
Ölsauger IV verschrottet, S. 47
von: Sven Bardua
Hamburg: Grundstein für BallinStadt gelegt, S. 48
von: Sven Bardua
DB-Symbol außer Betrieb, S. 48
von: Sven Bardua
Inbev schließt Wolers, S. 48
von: Sven Bardua
Dortmund: Gasbehälter planmäßig gesprengt, S. 49
von: Jens Schaefer
Düsseldorf: Meilenwerk im Lokschuppen, S. 49
von: Sven Bardua
Neue Halle für Eisenbahnmuseum, S. 49
von: Sven Bardua
Fördergerüst Borth gefährdet, S. 49
von: Sven Bardua
Nachrichten-Bunker wird Museum, S. 49
von: Sven Bardua
Ein Haus voller Geschichten, S. 50
von: Sven Bardua
Aufbau eines technischen Museums, S. 50
von: Sven Bardua
Abbruch des Bahnbetriebswerkes geplant, S. 50
von: Jörg Kahl
Bergehalde öffentlich zugänglich, S. 50
von: Jens Schaefer
Die letzte Kaffeeküche, S. 50
von: Karl-Heinz Janson
Gleitlager-Fabrik abgebrochen, S. 51
von: Karl-Heinz Janson
Erzhalle saniert – Schlot gekürzt, S. 51
von: Karl-Heinz Janson
„Rettet die schnellste Dampflok der Welt“, S. 51
von: Sven Bardua
70 Jahre Farbfilm aus Wolfen, S. 51
von: Sven Bardua
Weiterer Panometer geplant, S. 51
von: Sven Bardua
Alte Slipanlage für die „Rigmor“, S. 51
von: Sven Bardua
Bauernmühle abgebrochen, S. 52
von: Sven Bardua
2.411 Zechen geschlossen, S. 52
von: Sven Bardua
Aumetz, S. 52
von: Karl-Heinz Janson
Dampfgebläsemaschine zieht nach Uckange, S. 52
von: Werner Schleser
Fördergerüst Saint-Charles doch gerettet, S. 52
von: Werner Schleser
Förderturm der Mine „Ferdinand“ wird abgebrochen, S. 53
von: Werner Schleser
Abschied von einer Bus-Legende, S. 53
von: Sven Bardua
Brücke Breitensee renoviert, S. 53
Wo nichts mehr fließt, hilft nur noch pumpen, Pumpwerke  –  Schrittmacher der Wasserwirtschaft, S. 53
von: Eckhard Schinkel
Erneuerte Stadtlandschaft am Kanal, S. 54
von: Sven Bardua
Porzellan-Produktion eingestellt, S. 54
von: Sven Bardua
Vernetzte Industriekultur, S. 54
von: Sven Bardua
Lesezeichen
Industriearchitektur im frühen 20. Jahrhundert: Das Büro von Philipp Jakob Manz, S. 55
von: Andreas Oehlke
Cotton Mills for the continent, Sidney Stott und der englische Spinnereibau in Münsterland und Twente, S. 55
von: Alexander Kierdorf
DVD „Restaurierung im Industriemuseum-die Wollspinnerei Willführ im Tuchmachermuseum Bramsche, S. 55
von: Sven Bardua
Industriekultur im Kanton Glarus: Streifzüge durch 250 Jahre Geschichte und Architektur, S. 55
von: Sven Bardua
Aus der Geschichte der Tuchmacher in Malchow, S. 56
von: Sven Bardua
Abgefahren! Vom Straßenbau im Rheinland. Begleitband zur Sonderausstellung, S. 56
von: Sven Bardua
Kurt Bielau – Annäherung an einen Visionär, S. 56
von: Sven Bardua
Three Centuries of the „Old Sable“, S. 56
von: Alexander Kierdorf
Freilichtmuseum Hagen. Landesmuseum für Handwerk und Technik, S. 56
von: Michael Funk
Termine, S. 57

Die historische Anzeige (Beihefter)

Automaten mit Gefühl (Webautomaten der Maschinenfabrik Rüti AG)
von: Detlef Stender
Automaten mit Gefühl

Die »sanfte Bewegung« der Webautomaten, die die schweizerische Firma Rüti AG im Februar 1961 in der führenden Fachzeitschrift »Melliand Textilberichte« bewarb, sollte die gesamte Tuchindustrie sehr unsanft umkrempeln. Im Webautomat geschieht der Spulen- und Schützenwechsel rein mechanisch. Die volle Spule wird in den Schützen gedrückt und ersetzt die leere. Der Webstuhl musste dazu nicht mehr angehalten werden. Daher wurden diese Maschinen auch »Non stop-Automatenstühle« genannt. Zuvor war es üblich, den Webstuhl anzuhalten, um den abgelaufenen Schützen im Schützenkasten mit der Hand durch einen anderen zu ersetzten. Das kostete natürlich Zeit.

Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Mechanismus des automatischen Spulenwechsels von dem Amerikaner Northrop erfunden. Das neue Prinzip fand zunächst aber nur in der Baumwollindustrie Eingang. In der Wolltuchindustrie fand der Wechsel zum Webautomaten – unter dem harten Konkurrenzdruck der italienischen Wolltuchindustrie – erst in der Nachkriegszeit statt. In der Abbildung der Maschine ist auf der rechten Seite eine Art Revolvermagazin für Spulen zu erkennen, aus dem die Schützen jeweils neu bestückt wurden. Diese Rüti-Webautomaten waren in der Tat für die sanfte Bewegung des Schützens in der Webmaschine bekannt und beliebt, hat doch die Art seiner Bewegung großen Einfluss auf die Qualität des Tuches. Das Bild des Kunstturners auf dem Trampolin ist gewiss gut gewählt, steht er doch für Kraft, Energie, Eleganz und Präzision zugleich.

Geliefert wurde diese Präzisionstechnik vor allem aus der Schweiz: Berühmt waren die Webautomaten der Firmen Sulzer, Saurer und Rüti. Die Firma Georg Fischer aus Schaffhausen war zudem ein Spezialist für die Nachrüstung von Webstühlen für den automatischen Spulenwechsel. Eine Anzeige dieser Firma im selben Heft der »Melliand Textilberichte« schildert den ökonomischen Zusammenhang, in dem Webautomaten angeschafft wurden: »Probleme – die sich dem Weber stellen: Höhere Löhne, mehr Aufträge aber gleichzeitig kürzere Arbeitszeit und weniger verfügbare Arbeitskräfte. Dieses Problem lässt sich durch Erhöhung der Produktion, Verbesserung der Qualität und Steigerung der Betriebssicherheit bei gleichzeitiger Reduktion des Lohnanteils, der Stuhlstillstände und der Sekundaware lösen. Das Mittel heißt: GF-Vollautomatik!«

In der gesamten deutschen Wollweberei stieg in der Tat die Produktivität der Arbeit – vor allem durch die Webautomaten – zwischen 1954 und 1964 um 58 Prozent, der Maschinen sogar um 82 Prozent. Während zuvor ein Wollweber zwei Webstühle bediente, steigerte sich nun diese Zahl rasch auf sechs Maschinen, später in der Regel sogar auf 12 bis 15 Webautomaten. Letztlich konnte eine Weberei langfristig ohne diese Modernisierung kaum überleben. Allerdings sollte die nächste Revolution der Webtechnik bald folgen und der gute alte Webschützen bald ganz verschwinden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Detlef Stender