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Wesseling ist überall: Ruinenfrust und Ruinenlust

Im romantischen Landschaftspark vergangener Jahrhunderte gehörte sie zum unverzichtbaren Inventar: die Ruine. Manche Gartenkünstler bezogen vorhandene Baurelikte in ihre Kreationen mit ein, andere schufen um so phantasievollere künstliche Ruinen. Manches kostbare antike oder mittelalterliche Baufragment (in der Fachsprache „Spolie“) fand so eine neue Verwendung…

Vor allem in der Fotoszene hat sich in den letzten Jahren ein neuer Themenschwerpunkt etabliert, der verlassene und verfallene Orte darstellt, manchmal mehr, meist aber weniger verfremdet. Die Zeugen vergangenen Lebens und auch künstlerischen Schaffens zeigen den gleichen „morbiden Charme“, der schon vor Jahrhunderten die Kunstliebhaber im Park oder als Gemälde an die Vergänglichkeit allen menschlichen Tuns und die alles vereinnahmende Kraft der Natur gemahnte.

Als „Ruinenlust“ hat diese neue Thematik nun nach Medienberichten Eingang in den internationalen Wortschatz gefunden. Aber auch im deutsch-englischen Wortfeld verloren-lost-verlassen und unter dem Begriff „lost places“ sind solche Themen zu finden. Die Facebook-Seite „Verlassene Orte in Deutschland“ (verlasseneortedeutschland [1]) habe inzwischen mehr als 200.000 Anhänger.

Auch wenn die „Szene“ auf einen Ehrenkodex („nichts mitnehmen“) verweist, stellen die Bildjäger dennoch eine nicht zu unterschätzende Gefahr für sich und ein Problem für andere, insbesondere die Besitzer solcher Bauten dar. Allzu leicht können versteckte Löcher, baufällige Wände und Decken zu lebensgefährlichen Fallen für die Fotografen werden.

Auch wenn die präsentieren Fotos meist keine Ortsangabe enthalten, sind viele Objekte doch allgemein bekannt und werden in Insider-Kreisen weitergegeben. Selbst bei Wikipedia finden sich – wenn auch ohne direkten Hinweis, aber durch die Links eindeutig erkennbar – Artikel über besuchenswerte Objekte.

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Ein Musterbeispiel ist die zwischen Köln und Bonn gelegene Norton-Fabrik [3]in Wesseling, ein bautechnisch und architektonisch wichtiges Bindeglied zwischen amerikanischem Industriebau und europäischer Moderne. 1992 stillgelegt, verfällt sie seitdem immer mehr. Beliebt auch als Drehort für die Kölner Medienindustrie, gerät sie inzwischen wegen wiederholter Brände in die Nachrichten.

Die Bemühungen des LVR-Amtes für Denkmalpflege im Rheinland, die Eintragung als Industriedenkmal in die Denkmalliste der Stadt Wesseling zu erreichen, wurden von letzterer bisher ignoriert [4]. War das Werksgelände früher zumindest notdürftig abgesperrt, sind inzwischen alle Tore und Zäune offen, der Zugang von allen Seiten ungehindert.

Was den künstlerisch Beflügelten begeistert, entsetzt hier allerdings den Konservator. Zwar scheint die Substanz noch immer nicht entscheidend geschädigt, aus der Perspektive der Bevölkerung gehört der „Schandfleck“ aber dennoch so schnell wie möglich beseitigt. Die Karawane der Ruinenlust-Enthusiasten zieht weiter, verloren geht dagegen ein unbekanntes Schlüsselobjekt der Industriearchitektur.