Stuttgart: Proteste gegen den Teilabbruch des Hauptbahnhofs gehen weiter
Der Kopfbahnhof soll in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof umgewandelt werden, mit Anschluss an eine neue ICE-Strecke nach Ulm. Allerdings fordere der Plan ein Opfer: Das 1914-28 von Paul Bonatz und Friedrich Scholer errichtete Bahnhofsgebäude, laut baden-württembergischen Denkmalschutzgesetz ein Kulturdenkmal besonderer Bedeutung, solle gnadenlos verstümmelt werden. Man will den gesamten Schlossgartenflügel sowie Teile der Nordwestfassade niederlegen und die charakteristische Treppenanlage in der Grossen Schalterhalle entfernen. Der vorgesehene Teilabriss hätte auch für den städtebaulichen Bezug schwerwiegende Folgen. Die unscheinbare Rückseite des Bauwerks, als Innenfassade gedacht, würde so zur Schauseite an dem neu zu gestaltenden Platz. All dies bringt nicht nur die Denkmalpfleger in Wallung. Bereits im vergangenen Jahr hatten 60.000 Menschen ein Bürgerbegehren gegen das Projekt unterschrieben – ohne Erfolg.Nun hat die Arbeitsgemeinschaft Hauptbahnhof Stuttgart nochmals einen internationalen Aufruf gegen die Zerstörung des Bahnhofsgebäudes veröffentlicht. Prominente Mitstreiter wie Richard Meier, Günther Behnisch oder David Chipperfield fordern den Erhalt der vom Abriss bedrohten Flügel sowie ein neues Konzept für die Umnutzung. Auch der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, Professor Dr. Gottfried Kiesow, hat das Papier unterzeichnet. "Tunlichste Sparsamkeit" war seinerzeit bei der Ausführung geboten – an die schwäbische Tugend scheine sich bei "Stuttgart21" niemand mehr zu erinnern.
Umfangreiche Informationen bietet die Website der Arbeitsgemeinschaft: www.hauptbahnhof-stuttgart.eu
Noch bis Anfang Januar 2009 kann eine Online-Petition mit folgendem Inhalt unterzeichnet werden:
Der Deutsche Bundestag möge beschließen, dass der denkmalgeschützte Stuttgarter Hauptbahnhof, 1914 bis 1928 nach Plänen von Paul Bonatz (1877-1956) erbaut, nicht zum Großteil abgebrochen wird, sollte das Projekt "Stuttgart 21" trotz der vom Bundesrechnungshof dem Haushaltsausschuss am 4.11.08 vorgelegten Mehrkosten in Milliardenhöhe gebaut werden.(Stichwort: Eisenbahnliegenschaftswesen – HBF Stuttgart vom 6. 11. 2008)
Begründung: Der Stuttgarter Hauptbahnhof, von 1911 bzw. 1914 bis 1928 nach Plänen von Paul Bonatz (1877-1956) und Friedrich Eugen Scholer (1874-1949) erbaut, zählt zu den bedeutendsten Bauwerken des beginnenden 20. Jahrhunderts in Deutschland und Europa. Er kann als der erste Großstadt-Bahnhof der „Moderne“ bezeichnet werden und steht hinsichtlich seines architekturhistorischen Ranges in einer Reihe mit Bauwerken wie der AEG-Turbinenhalle (1908/09) in Berlin von Peter Behrens und den Fagus-Werken in Alfeld an der Leine (1911) von Walter Gropius. Mit Recht wurde er gemäß § 12 des Landesdenkmalgesetzes vom Land Baden-Württemberg unter Denkmalschutz gestellt. Dieses Meisterwerk der Architektur des 20. Jahrhunderts wird allerdings nicht nur seit Jahrzehnten vernachlässigt, d.h., seine bauliche Unterhaltung erfolgt nicht seinem Rang gemäß; es ist außerdem in sehr naher Zukunft in großen Teilen seines baulichen Bestandes direkt gefährdet. Denn: Im Zuge der Realisation des seit den 1990er Jahren geplanten neuen Tiefbahnhofs, bekannt unter dem Namen „Stuttgart 21“, ist ab 2008/2009 eine Reihe gravierender Eingriffe in den denkmalgeschützten Bestand vorgesehen. Dazu gehören: • Abriss des gesamten Süd-Ostflügels am Schloßgarten (Cannstatter Str.) • Abriss des gesamten Nord-Westflügels (Richtung Heilbronner Str.) • Abriss der Haupttreppe innerhalb der großen Schalterhalle • Abriss der Verkehrsebene in der KopfbahnsteighalleDas Bauwerk, das bis heute als typischer Kopfbahnhof den Gleiskörper U-förmig umfängt, wird durch die vorgesehenen „Amputations“-Maßnahmen gut die Hälfte seiner Gebäudesubstanz mit den charakteristischen Fassadengestaltungen (rohes Kalkstein-Bossenwerk) verlieren und somit zum Torso werden. Im Innern des restlichen Gebäudeflügels zum Arnulf-Klett-Platz wird es zu erheblichen Eingriffen kommen, die nur als „Verstümmelungen“ bezeichnet werden können. Besonders gravierend ist, dass der Bauherr, die bundeseigene Deutsche Bahn AG, tatkräftig vom Land Baden-Württemberg, von der Region Stuttgart und von der Stadt Stuttgart unterstützt wird. Somit setzt sich ausgerechnet die „Öffentliche Hand“ über alle Gebote des Denkmalschutzes hinweg, indem sie ein herausragendes, weltbekanntes, zudem in die Denkmalliste eingetragenes Kulturdenkmal fragmentiert, beschädigt und den verbleibenden Rest zu einer baulichen Attrappe degradiert. Gegen die geplanten Maßnahmen melden wir größte Bedenken an und fordern alle Verantwortlichen mit Nachdruck auf, Alternativen zu den bisher vorgelegten Planungen zu entwickeln. Es gilt, eine denkmalverträgliche und der Bedeutung des Bauwerks angemessene Lösung zu finden, damit der drohende Abriss wesentlicher und charakteristischer Teile des Stuttgarter Hauptbahnhofs vermieden werden kann.
Literaturempfehlung:
Roser, Matthias:
Der Stuttgarter Hauptbahnhof. Vom Kulturdenkmal zum Abrisskandidaten?
Stuttgart: Schmetterling 2008. 152 Seiten, Gebunden,
ISBN 978-3-89657-133-5, 18,80 EUR
(Foto: Achim Bednorz, Köln, aus: Ebert/Bednorz: Kathedralen der Arbeit, Wasmuth Verlag, Tübingen-Berlin 1996, mit frdl. Genehmigung)